Görlitz hüben, Görlitz drüben


 

 

 

 

 

 

 

 

Das architektonisch interessante Görlitz in Sachsens fernem Osten befindet sich direkt an der Grenze zu Polen. Mit der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Ostteil von Görlitz in Zgorzelec umbenannt. Mit dem folgenden sieben Kilometer langen Stadtwandern lässt sich schon einiges der beiden Görlitze erkunden.


 

 

 

 

 

 

 

 

Auf dem Weg vom Görlitzer Bahnhof in die nahegelegene Innenstadt kam ich mir bereits vor wie in einem bewohnten Freilichtmuseum zur Architekturgeschichte Sachsens. Ähnliche Gründerzeithäuser finden sich etwa in Zwickau und Leipzig, aber die Görlitzer Bauten sind schon next level. in der Innenstadt folgen gotische Türme und Kirchen und das einzige in seiner ursprünglichen Gestalt erhaltene deutsche Jugendstil-Kaufhaus.


 

 

 

 

 

 

 

 

Der Weg durch die Altstadt ist gesäumt von Skulpturen aus mehreren Jahrhunderten. Von Brunnen und Häuserfassaden, Toren und Giebeln sehen sie einen an oder über einen hinweg in die Ferne.





 

 

 

 

 

 

 

 

Von erhöhten Stellen in Görlitz aus ist Zgorzelec an den Plattenbauten zu erkennen, die weniger klar strukturiert sind als die eher bauhausigen Plattenbauten der DDR. Neben diesem als Manhattan bezeichneten Hochhäuser-Areal gibt es aber auch jenseits der Neiße Wilhelminismen und Gründerzeit-Architektur zu sehen.



 

 

 

 

 

 

 

Ein bedeutender Görlitzer war der Schuster, Theologe und Philosoph Jacob Böhme, dessen 400. Todestag im Jahr 2024 u.a. mit einer Sonderausstellung im Schlesischen Museum begangen wird. (Werbung in diesem Beitrag ist unbezahlt.) In der Touristinformation sind Büchlein von und über Böhme erhältlich. Böhmes Grab auf dem Alten Friedhof an der Nikolaikirche ist ausgeschildert.



 

 

 

 

 

 

 

Neben dem Friedhof befindet sich das Finstertor, und ein paar Meter weiter wohnte der Scharfrichter. Das Scharfrichterhaus ist erhalten, heute aber ein privates Wohnhaus und mit viel Grüngehölz gegen neugierige Touristen abgeschirmt.


 

 

 

 

 

 

 

 

Mich freut es immer, wenn erst zufällig und dann absichtlich Kleinigkeiten des Alltags erhalten werden. In Görlitz kam ich an einem Haus vorbei, an dessen Fassade eine vielleicht hundertjährige, etwas verblasste, aber noch gut lesbare Inschrift das Sortiment eines Lebensmittelladens mitteilte. Da beschloss ich, statt "Mineralwasser" wieder "Selters" zu sagen, wie ich es von Kindheit an gewohnt war.


 

 

 

 

 

 

 

 

Unterhalb der Pfarrkirche St. Peter und Paul lässt sich die Neiße und damit die deutsch-polnische Grenze auf einer Fußgängerbrücke überqueren. Im ausgehenden 19. Jh. fand man übrigens, dass die beiden gotischen Kirchtürme nicht gotisch genug aussahen, weshalb man sie kurzerhand mit neugotischem Beton aufgestockt hat.


 

 

 

 

 

 

 

 

Wenige Meter von der Brücke entfernt steht Jacob Böhmes Wohnhaus am polnischen Ufer der Neiße. Jenes beherbergt die Touristinformation von Zgorzelec und eine Ausstellung über Böhme. Leider hat an meinem Wandertag das Haus außerplanmäßig 13 Uhr geschlossen, und ich war 12:58 Uhr dort. Also bin ich weiterspaziert und habe mir die Ausstellung über den schlesischen Gottfinder für einen zweiten Besuch vorgemerkt. 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachdem man am polnischen Ufer das Gros der Eisstände, Tabakläden und Pizzerien hinter sich gelassen hat, kehrt die sanierte Görlitzer Gründerzeit wieder. Mein nächstes Wanderziel war aber weniger bürglicher als kaiserlicher Art. An einem Park befindet sich nämlich ein bedeutender wilhelminischer Bau: die im Jahr 1900 eingeweihte Schlesische Gedenkhalle, das heutige Kulturhaus von Zgorzelec. 1950 wurde in ihr das Görlitzer Abkommen über den Verlauf der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße zwischen der DDR und Polen unterzeichnet.




 

 

 

 

 

 

 

 

Zurück ins deutsche Görlitz geht es über eine Brücke, die Johannes Paul II. gewidmet ist. Gleich daneben am Rande des Görlitzer Stadtparks wird eine andere weltumspannende Orientierungsmöglichkeit gewürdigt, und zwar der 15. Meridian Ost. Der verläuft durch den Stadtpark und gibt die mitteleuropäische Uhrzeit vor. Der Bronzebügel auf dem Denkmal kennzeichnet die Meridianrichtung.




 

 

 

 

 

 

 

Im Stadtpark gibt es noch mehr zu sehen, etwa die Brunnenplastik "Fischende Knaben" von 1929, in der das Ulkige des Jugendstils auf das Abstrakte der Neuen Sachlichkeit trifft. Ebenfalls im Park: Ein Massengrab von 1813 samt Denkmal für die dort bestatteten Soldaten, die für oder gegen Napoleon gekämpft hatten und hernach in Görlitzer Lazaretten an Typhus gestorben waren. So viel Geschichte! Selbst die Toilettenanlage am Rande des Stadtparks ist gründerzeitlich.



 

 

 

 

 

 

 

So langsam hatte ich das Gefühl, für diesen Tag genug gesehen zu haben und genug gewandert zu sein. Manches wie die Museen der Stadt und die Synagoge habe ich mir für einen weiteren Görlitzbesuch aufgehoben. Die von 1909 bis 1911 errichtete Synagoge ist übrigens nicht nur deshalb besonders, weil sie erhalten ist, sondern auch weil ihre beiden Architekten dieselben sind, die den Leipziger Hauptbahnhof und die Dresdner Semperoper entworfen haben.

Wer nun noch nicht genug gewandert ist, kann sich bspw. in die Südstadt begeben und den Görlitzer Tierpark besuchen. Ich jedoch habe mich auf den Weg zurück zum Postplatz und danach zum Bahnhof gemacht und dabei Mohnplätzeln gefuttert, eine Görlitzer Spezialität. 


 

 

 

 

 

 

 

 

Weitere Spezialitäten wie schlesische Oblaten mit Vanille, Haselnuss oder Knoblauch, außerdem Bücher und traditionelles Geschirr gibt es in der Schlesischen Schatztruhe vor Ort in Görlitz sowie im Internet. Wer selber schlesisches Mohngebäck backen möchte, kann sich an Rezepte dieses Kochbuches halten.

Kommentare

  1. Ja. Ich habe schon öfter gehört, dass Görlitz echt schön sein soll und finde das hier mehr als bestätigt! Seit ich mal angefangen habe, mein handgeschriebenes Buch aus dem frühen 19. Jahrhundert zu entziffern, weiß ich auch ein für alle mal, wer Jakob Böhme war. Inhaltlich kann ich mit ihm überhaupt nicht warm werden, aber er hat doch meine Sympathie, weil er ein *Schuster* mit Visionen war, und man ihm wohl genau das am meisten verübelt. Theologie war und ist was für die gehobene Gesellschaft, da mögen sich die Handwerker doch bitte raushalten. - Stehen da Plastiklilien vor dem Grabstein?

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    1. Von Böhme habe ich zugegebenermaßen noch gar nichts gelesen, mir ist er nur vom Hörensagen bekannt. Neulich habe ich aber vom Böhme-Jubiläum gehört und hielt das für einen guten Anlass, endlich mal Görlitz zu besuchen. Und ja, das sind Plastiklilien! Ich habe die Böhme-Gesellschaft im Verdacht! :)

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